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Corona: «Die Krankheit kann wirklich jeden erwischen»

Entlebucher Anzeiger – «Bei dieser Pandemie haben wir nur die Wahl, wollen wir die Krankheit durchmachen oder die Impfung», sagt Holger Spangenberger, Chefarzt Medizin am LUKS Wolhusen, in diesem Interview, das er dem «Entlebucher Anzeiger» gab. Dabei hält er die Impfung für «die sicherere Variante», trotz möglicher Nebenwirkungen. Schwere allergische Nebenwirkungen seien sehr selten und die Ärzte darauf vorbereitet.
19. März 2021
Lesezeit: 10 Minuten
Impfen am LUKS Wolhusen

Herr Doktor Spangenberger, Sie sind seit 2012 am Luzerner Kantonsspital LUKS in Wolhusen als Internist und Gastroenterologe tätig. Seit 2017 leiten Sie als Chefarzt die Abteilung Innere Medizin. Damit erlebten Sie die Corona-Pandemie von Anfang an hautnah mit. Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?

Ein Jahr Covid-19 brachte eine Umwälzung im Spital, wie ich sie noch nie in meiner Berufstätigkeit erlebt habe. Plötzlich mussten wir uns auf eine völlig neue Krankheit fokussieren. Dabei erlebten wir, wie ein normaler Spitalbetrieb komplett auf den Kopf gestellt werden kann. Wir mussten wie vom Bund gefordert ganze Abteilungen schliessen, weil wir nur noch die allernötigsten Eingriffe durchführen durften. Wir stellten unsere ambulanten Tätigkeiten ein, bis auf solche, die absolut unaufschiebbar waren. Das war ein Bruchteil der normalen Tätigkeit. Wir nutzten alle Ressourcen für die nicht abschätzbare Menge an Covid-Patienten, stellten innert wenigen Tagen eine komplett neue Intensivstation auf die Beine und integrierten Ärztinnen und Ärzte aus anderen Fachbereichen wie der Gynäkologie, der Chirurgie und der Orthopädie ins Team, um auf der Abteilung Medizin ausreichend ärztliche Ressourcen zu haben.

Sie sagten, dass Sie Personal fachübergreifend einsetzen mussten. Heisst das im Umkehrschluss, dass es im Kantonsspital Wolhusen zu wenig Fachpersonal gab, um die erste Welle zu bekämpfen?

Die Ressourcenplanung wurde von Anfang an über alle drei LUKS-Standorte gemacht. So konnten wir einerseits auf Ressourcen des LUKS Luzern zurückgreifen und im Gegenzug bei Belastungsspitzen auch für Entlastung im Zentrum sorgen  Dies hat sehr gut funktioniert – man hilft sich im LUKS gegenseitig aus. Engpässe gab es dennoch und gibt es immer noch. Insbesondere fehlten intensivmedizinisch geschultes Personal und Fachkräfte, die Beatmungen durchführen können. Gerade in diesem Bereich gibt es seit Jahren einen Mangel in der ganzen Schweiz, der nur mit Fachkräften aus dem Ausland einigermassen kompensiert wird.

Was nehmen Sie mit für die weitere Bewältigung der Coronapandemie?

Wir können nicht noch einmal die Versorgung aller Nicht-Covid-Patienten auf null herunterfahren. Aus der ersten Welle haben wir gelernt, dass die Absprache beim Engpass Intensivbetten viel koordinierter ablaufen kann. Heute sind nämlich alle Intensivstationen der Schweiz miteinander vernetzt, die über ein Meldesystem die Kapazitäten an leeren Plätzen aufzeigen – insbesondere an Beatmungsplätzen, den sogenannten Intensivpflegestationen IPS. In der Zentralschweiz wird die Koordination der Intensivplätze vom Zentrum für Intensivmedizin des LUKS Luzern übernommen.

Das heisst, eine an Covid-19 schwer erkrankte Person, die intubiert werden müsste, aber beispielsweise im Spital Schwyz nicht versorgt werden kann, weil die Kapazitäten erschöpft sind, könnte nach Luzern verlegt werden.

Genau. Die Koordination passiert überregional, wobei das LUKS mit seinen drei Standorten als grösstes Spital in der Zentralschweiz die Hauptlast trägt.

Glauben Sie, dass es eine dritte Welle geben kann?

Ja, es gibt Anzeichen dafür, da die Zahlen der Neuinfektionen aktuell wieder am Steigen sind.

Wie sollen wir dagegen angehen?

Neben dem Einhalten der Abstands- und Hygieneregeln ist die Impfung eine zentrale Massnahme, die bei der Eindämmung der Pandemie hilft. Das ist auch der Weg, den wir im Spital gehen. Eine weitere mögliche Strategie ist meiner Meinung nach «trace and track down» – also jeden Krankheitsfall verfolgen, schauen, welche Infektionsketten dahinter stecken und alle Infizierten radikal in Quarantäne schicken. Das kann bedeuten, dass man beispielsweise ganze Ortschaften in einen Lockdown bringt, damit der Rest der Gesellschaft keinen Lockdown braucht. Um letztere  Strategie zu verfolgen, müssten die Infektionszahlen jedoch minimal sein. Gerade diese Chance hat ganz Europa meines Erachtens letzten Frühsommer verpasst. Kein einziges Land hat es wirklich hinbekommen, die wenigen Fälle, die wir damals noch hatten, systematisch nachzuverfolgen, um die Ausbreitung einzudämmen. Das wäre unsere Chance gewesen, die  Pandemie einzudämmen. Das haben wir nicht geschafft. Eine weitere Strategie, die manche vertreten, ist, laufenlassen. Irgendwann haben so viele Menschen die Krankheit durchgemacht, dass die Pandemie zu einem Stillstand kommen wird. Nun hängt die Zahl derer, die die Krankheit durchgemacht haben müssen, von der Übertragbarkeit des Virus ab. Wenn wir gar nichts machen, müssten gegen 70 Prozent der Bevölkerung durch die Infektion eine Immunität erworben haben, um das Fortschreiten der Pandemie zu verhindern. Hingegen müsste bei den Mutationen eine Immunität von 90 Prozent erreicht werden.

In einer Studie der Universität Luzern hiess es kürzlich, jeder siebte Erwachsene im Kanton Luzern habe eine Corona-Erkrankung durchgemacht. Mit diesen 15 Prozent liegen wir deutlich unter den Werten, die Sie genannt haben.

Wir sehen, es ist eine weit verbreitete Krankheit. Aber wir haben eben keine Immunität in der Bevölkerung. Es gibt viele junge Menschen, die die Krankheit ohne Symptome durchmachen. Mit zunehmendem Alter steigt die Wahrscheinlichkeit eines symptomatischen Verlaufs. Die Krankheit kann wirklich jeden erwischen. Es gibt keine Altersgruppe, die völlig geschützt wäre. Es trifft sogar Kleinkinder, zumindest als Virusträger und Überträger.

Was spricht gegen die Strategie des Laufenlassens?

Nehmen wir mal an, alle Berufstätigen zwischen 50 und 65 würden in den nächsten Tagen Kontakt mit dem Virus haben. Mindestens zehn Prozent, eher mehr, werden krank und fallen für gut zwei Wochen aus. Davon wird wahrscheinlich bis zu einem Viertel an den Langzeitfolgen der Viruserkrankung leiden. Wir reden hier von den sogenannten Long-Covid-Patienten. Damit würden nicht nur die Spitäler an die Kapazitätsgrenzen stossen, sondern auch der gesamte Service public würde stark beeinträchtigt. Deswegen ist die Vorstellung, dass die Strategie des Laufenlassens für das öffentlichen Leben und die Wirtschaft weniger schädlich wäre als ein Lockdown, naiv. Im Gegenteil, diese Strategie würde das System meiner persönlichen Einschätzung nach ganz zum Erliegen bringen.

Also ist die Impfung sinnvoll und sollte vorangetrieben werden?

Ja. Denn wir brauchen eine Strategie, um mit dieser Pandemie wieder in ein normales Leben zu kommen.

Mittlerweile sind zwei Impfstoffe in der Schweiz zugelassen. Der eine von Biontech/Pfizer und einer von Moderna. Was passiert eigentlich nach dem Piks in den Oberarm im Körper?

Der Wirkstoff bei den beiden zugelassenen Impfungen enthält sogenannte mRNA, also genetische Informationen für den Aufbau eines Proteins. Dieser Wirkstoff ist in Fettkügelchen verpackt und wird in den Oberarm gespritzt. Der Wirkstoff wird von unseren Körperzellen aufgenommen, die daraus das bekannte Spike-Protein herstellen und an die Oberfläche der Zelle bringen. Dort nimmt unser Immunsystem Kontakt auf mit diesem als fremd erkannten Protein und bildet nicht nur Antikörper, sondern auch Abwehrzellen. Diese T-Lymphozyten und die Antikörper bekämpfen das als fremd erkannte Protein. Damit wird unser Immunsystem stimuliert, um das Coronavirus, das ein RNA-Virus ist, vernichten zu können.

Dringt der Werkstoff in die DNA, den Bauplan des Menschen ein?

Nein.

                             

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Dr. med. Holger Spangenberger
Die schweren allergischen Reaktionen, die unmittelbar nach der Impfung auftreten können, sind mit einer Wahrscheinlichkeit von 1:45'000 sehr selten.

Derzeit scheiden sich die Geister über die Nebenwirkungen. Die einen sagen, ich habe nichts gespürt. Andere werden ernsthaft krank. Wie sieht das nun aus mit den Nebenwirkungen und wie gefährlich sind diese?

Vorweg: Nebenwirkungen sind ja nicht nur bei der Covid-Impfung bekannt, sondern auch bei anderen Impfungen oder auch bei Medikamenten. In den Zulassungsstudien der zwei oben genannten Covid-19-Impfungen wurde der jeweilige Wirkstoff daraufhin untersucht, was an Nebenwirkungen auftritt. Eine der möglichen Nebenwirkungen sind Schmerzen an der Einstichstelle und Müdigkeit, von der etwa 50 Prozent der Geimpften berichten. Dann gibt es noch zwei Nebenwirkungen, die seltener, aber unangenehmer sind. Die einen haben mit Gliederschmerzen und Kopfschmerzen zu tun, was sich im zweistelligen Prozentbereich bewegt, und ein paar Menschen entwickeln Fieber. Mir sind Ausnahmen bekannt, die für zwei Tage arbeitsunfähig waren. Die schweren allergischen Reaktionen, die unmittelbar nach der Impfung auftreten können, sind mit einer Wahrscheinlichkeit von 1:45'000 sehr selten. Für einen solchen Fall sind wir jedoch auch vorbereitet.

In den sozialen Medien kursieren immer wieder Meldungen, dass Menschen nach der Impfung gestorben sind. Ist das wirklich möglich, dass die Impfung tödlich sein kann?

In der Schweiz werden alle Impfreaktionen der Swissmedic gemeldet, die diesen Fällen nachgeht – insbesondere auch jenen schweren Verläufen, die mit dem Tod enden. Dort wird untersucht, ob ein Zusammenhang zwischen der Impfung und dem Tod wahrscheinlich ist. Nur muss man sehen, dass zuerst die über 80-Jährigen in Pflegeheimen geimpft wurden. Wenn mehrere tausend Menschen in diesem Alterssegment geimpft werden, lässt sich kaum ausschliessen, dass einige dieser Menschen sterben. Und zwar völlig unabhängig von der Impfung.

Gibt es Personen, die sich nicht impfen lassen sollten und warum?

Es gibt Immunerkrankungen wie etwa eine Agammaglobulinämie, die dazu führt, dass Impfungen nur eingeschränkt wirksam sind, weil diese Erkrankungen die Bildung der Antikörper massiv unterdrücken. Zudem sind Schwangere nicht für die Impfung zugelassen, weil wir nicht wissen, wie Schwangere auf den Impfstoff reagieren. Das wurde bis jetzt nicht in Studien untersucht. Und noch haben wir keinen zugelassenen Impfstoff für Jugendliche unter 16 Jahren. Das wird aber zurzeit in England untersucht.

Laut der Zulassungsstudie wird nach einer Pause von drei Wochen eine zweite Impfung nicht nur empfohlen, sondern vorgeschrieben. Weshalb braucht es eine zweite Dosis?

Das gilt für viele Impfungen, dass  das Immunsystem mehrmals stimuliert wird. So braucht es beispielsweise gegen Frühsommer-Meningoenzephalitits, ausgelöst durch Zeckenbisse, drei Impfungen, gegen Tetanus ebenfalls. Dieser Vorgang der Mehrfachimpfung ist ein altbekanntes Phänomen, um dauerhaft Gedächtniszellen im Körper des Menschen hervorzurufen, die Viren bekämpfen. Das erfreuliche beim Wirkstoff von Biontech/Pfizer ist, dass schon die erste Impfung einen gewissen Schutz bietet. Dieser liegt zwar nicht bei 95 Prozent, aber doch bei über 50 Prozent. Also mehr als eine Grippeimpfung bringt. Deswegen braucht es zwei Impfungen, um den Schutz weiter zu erhöhen und die 95 Prozent zu erreichen.

Die Impfung ist die sicherere Variante, da eine Covid-19-Infektion durchaus sehr schwere Verläufe haben kann. Das haben wir in den vergangenen Monaten leider sehr oft miterleben müssen.

Die Impfung wird immer wieder kontrovers diskutiert, auch in Fachkreisen. Da ist beispielsweise zu lesen, dass unser Immunsystem durch die Impfung überfordert wird und aus dem Tritt kommen könnte. Was halten Sie davon?

Impfungen beruhen auf einem funktionierenden Immunsystem. Wir lassen das Immunsystem durch die Impfung genau das tun, was es immer tut: fremde Stoffe, Eiweisse von Bakterien, Viren oder Krebszellen als fremd zu erkennen und mit Antikörpern und Killerzellen dagegen vorzugehen. Dies ist ja genau das, was auch bei einer Infektion passiert. Sorge haben wir vor Antikörpern, die auch gegen körpereigene Eiweisse kreuzreagieren und beispielsweise nach Infektionen Rheumatische Erkrankungen hervorrufen. Dies ist bei den Covid-Impfstudien nie beobachtet worden, mit Ausnahme von seltenen Nervenentzündungen, die sich wieder zurückbilden.

Grundsätzlich basiert die Impfung auf Freiwilligkeit. Die Bevölkerung kann nicht gezwungen, aber sie kann ermutigt werden.

Das ist für mich die richtige Strategie. Denn ich bin ganz klar der Meinung, die Impfung sollte eine Vernunftentscheidung sein. Allerdings haben wir bei dieser Pandemie nur die Wahl, wollen wir die Krankheit oder die Impfung durchmachen. Und da sage ich ganz klar, die Impfung ist die sicherere Variante, da eine Covid-19-Infektion durchaus sehr schwere Verläufe haben kann. Das haben wir in den vergangenen Monaten auch im LUKS Wolhusen leider sehr oft miterleben müssen.

Dennoch, der Bundesrat zieht in Betracht, Personen, die gegen Covid-19 geimpft sind, privilegierten Zugang in verschiedene Bereiche zu ermöglich. Auch in der EU wird das diskutiert. Entsteht dadurch nicht doch ein Druck auf die Bevölkerung?

Diese Frage muss die Politik beantworten. Fakt ist: Die Impfung ist freiwillig. Ich als Arzt, der regelmässig mit schweren Covid-Verläufen konfrontiert ist, kann nur an die Solidarität jedes Einzelnen appellieren.

Im Moment sind Mutationen des Coronavirus im Umlauf, weitere könnten vielleicht noch folgen. Schützen die zugelassenen Vakzine auch gegen diese Mutationen?

Das Problem ist natürlich, je länger wir die Pandemie toben lassen, desto mehr Varianten werden wir bekommen. Nach heutigem Wissensstand ist die britische Variante, die sich in der Schweiz sehr stark verbreitet, mit den in der Schweiz zugelassenen Impfstoffen abgedeckt. Bei der brasilianischen Variante scheinen die Impfungen etwas schwächer zu wirken und erreichen nicht mehr den 95% Schutz. Ich bin kein Hellseher, aber es kann durchaus sein, dass wir in drei Monaten andere Impfstoffe entwickeln müssen, um die nächste Welle an Mutationen zu bekämpfen.

Da es keine Langzeitstudien gibt, drängt sich eh die Frage auf, wie lange die heutigen Wirkstoffe schützen.

Können wir auch nicht haben, da wir uns erst seit ein paar Monaten mit dem Virus und den Impfstoffen beschäftigen. Wir werden aber in wenigen Wochen sagen können, ob der Wirkstoff wenigstens sechs Monate hilft.

Letzte Frage: Sind Sie geimpft?

Ja, ich bin durchgeimpft, habe also beide Dosen des Wirkstoffs von Biontech/Pfizer erhalten, den wir hier in Wolhusen und im gesamten LUKS einsetzen. Das liegt daran, dass ich auf dem Notfall, auf der Intensiv- und der Covid-Station arbeite. Ausserdem habe ich damit auch meine Vorbild-Funktion als Vorgesetzter wahrgenommen.

 

Dieses Interview erschien am 12. März 2021 im «Entlebucher Anzeiger»

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