Direkt zum InhaltDirekt zum Fussbereich

Die tapfere Kämpferin und ihre sehr seltene Krankheit

Fiamma (14) leidet an einer sehr seltenen Krankheit. Auf eine Million Menschen gibt es eine betroffene Person. Ihre genetische Erkrankung lässt Muskeln und Gewebe verknöchern. Ein zugelassenes Medikament dagegen gibt es noch nicht. Nun setzt Prof. Dr. med. Johannes Roth vom Zentrum für seltene Krankheiten am Luzerner Kantonsspital (LUKS) auf ein noch nicht zugelassenes Mittel, das die Entwicklung zumindest stoppen könnte.
29. Februar 2024
Lesezeit: 5 Minuten
Fiamma mit ihrem Vater und Prof. Dr. med. Johannes Roth in der Physiotherapiehalle im Kinderspital

Immer wieder hebt sie ihre Arme und möchte die Ringe erreichen, die in der Physiotherapie-Halle von der Decke hängen. Ihr Körper sagt Nein. Fiamma ist in den Bewegungen sehr stark eingeschränkt, kann die Arme kaum über Schulterhöhe bringen oder nur unter Schmerzen. Doch die Viertklässlerin aus Biasca lässt sich von ihrer Krankheit nicht entmutigen trotz nicht absehbarem Ausgang: Nächstes Jahr kommt sie in die Oberstufe in Bellinzona. «Ihr Traum ist es, Pädagogik zu studieren und mit Vorschulkindern zu arbeiten», erzählt ihr Vater Gianluca B. 

Fiamma leidet an FOP, Fibrodysplasia Ossificans Progressiva, einer seltenen genetischen Erkrankung. Muskeln, Binde- und Stützgewebe ihres Körpers verknöchern fortschreitend. Schübe können spontan oder durch Verletzungen von Gewebe auftreten und melden sich meist durch schmerzhafte Schwellungen an. Weltweit kennt man ungefähr 700 betroffene Personen, es dürften aber einige mehr sein. Ein typisches Indiz für FOP sind Fehlbildungen der Grosszehen.

Schon bei der Geburt gab es einen Verdacht

Vater Gianluca Bianchi sagt: «Ich erinnere mich genau an die Geburt in Bellinzona, an den Moment, als die Ärzte die beiden grossen Zehen bemerkten.» Sie vermuteten eine bestimmte Krankheit, ohne zu wissen, welche. «Wir landeten in der Folge bei verschiedenen Ärzten, immer wieder wurden Tests gemacht.» Aber ohne klare Diagnose. Die Verknöcherung beginnt meist in den ersten Lebensjahren. Zuerst sind Halswirbelsäule, Schultergelenke und der ganze Schultergürtel betroffen. Es folgt eine Verkrümmung der Wirbelsäule. Auch bei Fiamma, die ihren Kopf nur noch wenig nach links und rechts bewegen kann. 

Die Ursache liegt in einem übermässig aktiven Protein zur Knochenbildung. Gegen FOP gibt es weltweit noch kein zugelassenes Medikament. Doch bestehen interessante Ansätze, um die Krankheit zumindest eindämmen oder stoppen zu können. Die Behandlung zielt meist primär darauf ab, Symptome zu lindern und Komplikationen zu vermeiden. So sollten Operationen vermieden werden, Verletzungen können heftige Schübe auslösen. 

Wichtig ist Aufbau eines hilfreichen Netzwerkes

Bei Fiamma wurde die Diagnose im Alter von zwei Jahren gestellt. «Irgendwann landeten wir im Universitätsspital von Lausanne. Dort wurde viel klarer, woran sie leidet. Wir erfuhren, dass es sich um eine fortschreitende Krankheit handelt und wie wichtig es ist, dass Fiamma nicht stürzt oder sich verletzt», sagt ihr Vater. Sie kamen in Kontakt mit FOP Italia, einem Verein von Eltern und Verwandten betroffener Menschen, insbesondere Kinder. Hauptziel ist der Austausch von Informationen und Erfahrungen. «So besuchten wir mehrmals Ärzte in Genua. 

«Es kann nicht sein, dass eine Patientin von Arzt zu Arzt weitergereicht wird und sich niemand für Hilfe an ihr zuständig fühlt», sagt Prof. Dr. med. Johannes Roth, Leitender Arzt am Kinderspital Zentralschweiz und Leiter des Zentrums für seltene Krankheiten am LUKS. Bei ihm ist Fiamma heute in Behandlung. Jemand müsse die Führung übernehmen, mit der IV verhandeln, das Netzwerk aus Medizin, Physiotherapie, Psychologie oder Sozialberatung aufbauen. Hierbei helfe ein Zentrum für seltene Krankheiten sehr. 

Roth Johannes WebseiteBanner
Es kann nicht sein, dass eine Patientin von Arzt zu Arzt weitergereicht wird und sich niemand für Hilfe an ihr zuständig fühlt.

Prof. Dr. med. Johannes Roth

Dass Fiamma heute Patientin am LUKS ist, ist einem Zufall zu verdanken, wie ihr Vater sagt: «Eine schöne Geschichte: Im Zusammenhang mit einem Dokumentarfilm über FOP hatten wir Kontakt mit dem Verein Tin Soldiers in Südafrika. Sie fragten uns: Ist es möglich, dass Sie Johannes Roth nicht kennen? Er wurde uns als Spezialist für seltene Krankheiten, insbesondere bei Minderjährigen, vorgestellt. Seither haben wir Herrn Roth kennengelernt und schätzen sein Fachwissen und seine menschliche Art sehr. Ausserdem ist er immer für uns erreichbar.»

«Furchtbar, zuschauen zu müssen»

Johannes Roth sagt: «Es ist furchtbar, zuschauen zu müssen, wie ein Kind über zwei Jahrzehnte immer mehr Fähigkeiten verliert und langsam dem Tod entgegen geht.» Die Lebenserwartung liegt bei etwa 40 Jahren, im Fall von Fiamma aber, die bereits mit 14 Jahren sehr eingeschränkt ist, ist der Ausgang völlig offen. Die Prognosen hängen sehr stark davon ab, ob das nun eingesetzte Mittel anspricht und den Prozess stoppen kann. «Sonst wird Fiamma mit 20 Jahren steif in einem Rollstuhl leben und irgendwann, weil der Brustkorb im verknöcherten Körper eingesperrt ist, nicht mehr atmen können.»

Bei seltenen Krankheiten kommen Kinder- und Hausärzte oft an medizinische Grenzen. Sowohl für sie als auch für Betroffene gibt es in der Schweiz inzwischen Helplines, die beraten und Hilfe vermitteln. Die Koordination von Abklärungen, Terminen, Informationserfassung und -verwaltung sind in solchen Fällen eminent wichtig. Ein Zentrum wie das am LUKS verkürzt die Wege für alle und vereinfacht den Dialog. «Das A und O für die Betroffenen ist dabei die direkte und einfache Erreichbarkeit einer kompetenten Person etwa bei spontan auftretenden Beschwerden», sagt Roth. «Dies können auch spezialisierte Pflegende mit zusätzlichen Kompetenzen sicherstellen.» 

Übergang zum Erwachsenenalter sicherstellen

Am LUKS arbeitet man daran, den Erwachsenenbereich für seltene Krankheiten mit dem für Kinder und Jugendliche zusammenführen, um Kontinuität im Übergang zum Erwachsenenalter zu erreichen. Roth: «In diesem Zusammenhang ist auch unser Klinikinformationssystem LUKiS (Epic) sehr hilfreich. Mit spezifischen Modulen stellen wir sicher, dass im interdisziplinären Netzwerk und im Austausch mit anderen Epic-Spitälern alle Informationen immer und sofort allen zur Verfügung stehen.»

Ungeachtet der grossen Unsicherheit über ihr Schicksal und der fortschreitenden Krankheit versucht Fiamma ihr Leben bestmöglich zu meistern. Sie ist laut ihrem Vater eine sehr gute Schülerin. Den Turnunterricht aber musste sie vergangenes Jahr wegen FOP aufgeben. Zur Schule kommt sie noch ohne Hilfsmittel, «aber in Zukunft werden wir Lösungen finden müssen», sagt ihr Vater. Fiamma liebt das Theaterspiel. Sie besucht mit Gleichaltrigen einen Kurs in Biasca, liest überdies gerne und verbringt viel Zeit mit ihren Freunden. Ihr zu Ehren spielte der Hockeyclub Ambri Piotta, von dem sie Fan ist, vergangenes Jahr gegen Freiburg mit einem speziellen Trikot, das dem Kampf gegen FOP gewidmet war. Auch ihr Vater engagiert sich sehr – nicht nur in Fiammas Alltag, sondern auch mit der Gründung einer Selbsthilfegruppe. 

Seit 2021 anerkanntes Zentrum

Der Tag der seltenen Krankheiten wird alle vier Jahre (Schaltjahr) am 29. Februar begangen, in den anderen Jahren am 28. Februar. 

Das Luzerner Kantonsspital (LUKS) wurde Ende Mai 2021 von der Nationalen Koordination Seltene Krankheiten (kosek) als entsprechendes Zentrum anerkannt. Es ist damit eines von neun Zentren in der Schweiz, die auf die Diagnostik seltener Krankheiten spezialisiert sind.

 

Artikel teilen

Mehr zum Thema

Für LUKS-Newsletter anmelden

Wählen Sie Ihre Abonnements

War diese Seite hilfreich?