Für gezielteren Einsatz von Antibiotika am Beginn des Lebens
Die Studie von Dr. Martin Stocker, Chefarzt Neonatologie und pädiatrische Intensivmedizin am Luzerner Kantonsspital (LUKS), sowie den Neonatologie-Ärzten Dr. Varvara Dimopoulou und Prof. Eric Giannoni am CHUV befasst sich mit der Antibiotika-Exposition zu Beginn des Lebens. 757'979 Neugeborene, die in elf Ländern in Europa, Nordamerika und Australien am Termin oder kurz vor dem Termin geboren wurden, haben sie in die Studie aufgenommen.
Die Studie, die Ende 2022 in JAMA Network Open zusammen mit der Global Antimicrobial Awareness Week veröffentlicht wurde, zeigt, dass die Rate der Antibiotika-Exposition zwischen 1,2% und 12,5% schwankt, je nachdem, in welchem geografischen Gebiet das Kind geboren wurde. «Blutvergiftungen gehören zu den gefürchtetsten Infektionen bei Neugeborenen, welche mit einer Häufigkeit von 0.02 bis 0.1% mit einem Wachstum von Bakterien in einer Blutkultur bewiesen werden können», sagt Dr. med. Martin Stocker.
Auf ein Baby mit erwiesener Infektion kommen 50 bis 200 ohne Infektion, die gleichwohl mit Antibiotika behandelt werden.
Dr. med. Martin Stocker, Chefarzt Neonatologie und pädiatrische Intensivmedizin am Luzerner Kantonsspital
Zirka 2 bis 3 Prozent der termingeborenen oder kurz vor dem Termin geborenen Babys sterben an einer solchen Blutvergiftung. «Folglich bekommen viel zu viele Babys in der ersten Lebenswoche Antibiotika. Auf ein Baby mit erwiesener Infektion kommen 50 bis 200 ohne Infektion, die gleichwohl mit Antibiotika behandelt werden», sagt Dr. med. Martin Stocker. «Die Rate an bewiesenen Infektionen ging in den vergangenen 30 Jahren erfreulicherweise deutlich zurück, wir wenden aber immer noch die gleichen Strategien wie vor Jahrzehnten an.»
Ein Risiko für chronische Krankheiten
Neben der Erhöhung der Resistenz gegen antimikrobielle Mittel kann eine übermässige Antibiotika-Verabreichung an Neugeborene manchmal auch gesundheitliche Folgen haben. Eine frühe Abgabe verändert das individuelle Mikrobiom, also die guten Bakterien in unserem Körper. Eine Störung in der frühen Entwicklung des Mikrobioms kann Folgen für die individuelle Gesundheit des Babys haben: «Das Risiko, chronische Krankheiten wie entzündliche Darmerkrankungen, Ekzeme, Diabetes oder Asthma zu entwickeln, kann durch eine abnormale Entwicklung des Mikrobioms erhöht werden. Der Beginn des Lebens ist ein Schlüsselmoment für die normale Entwicklung des Mikrobioms», erklärt Prof. Eric Giannoni, Neonatologe am CHUV.
Gesundheitspersonal sensibilisieren
In bestimmten Situationen ist die Verabreichung von Antibiotika jedoch absolut unerlässlich und dringend. Leider gibt es keine einfache Möglichkeit, wirklich infizierte Babys von Babys mit Symptomen zu unterscheiden, die auf andere Gründe zurückzuführen sind (z. B. Atemnot aufgrund eines längeren Anpassungsprozesses nach der Geburt). Laut Martin Stocker überschätzen Ärzte jedoch häufig die Wahrscheinlichkeit, dass ein Neugeborenes eine bakterielle Infektion hat: «Unsere Studie ermöglicht es, die Risiken und Vorteile der Antibiotikagabe auf der Grundlage der verfügbaren Daten besser zu objektivieren und Kinderärztinnen und -ärzte für den Übergebrauch von Antibiotika zu sensibilisieren.»
Als nächster Schritt ist die Entwicklung eines internationalen, frei zugänglichen Dashboards geplant. Darüber sollen nach den Plänen der Studien-Autoren Informationen zur Antibiotikaexposition und zu bakteriellen Infektionen in der frühen Lebensphase ausgetauscht werden können. Durch Aufklärung, Benchmarking, Veränderungen in der Praxis, neue Managementstrategien und dank einer besseren Kommunikation zwischen Ärzten und Familien sind die Forscher überzeugt, dass es in bestimmten Situationen möglich ist, Neugeborenen weniger Antibiotika zu verabreichen.