Wenn das Auge nur die halbe Wahrheit erkennt
Prof. Dr. med. Thomas Nyffeler, Chefarzt Neurorehabilitation.
Die häufigste kognitive Behinderung ist die Halbseitenvernachlässigung, fachsprachlich Neglect genannt. Im Alltag zeigt sich der Neglect dadurch, dass die Betroffenen den zur Hirnverletzung gegenüberliegenden Raum nicht mehr korrekt wahrnehmen und entsprechend ausser Acht lassen. Sie selbst nehmen die Störung allerdings nicht wahr.
Neglect ist ein negativer Prädiktor bezüglich Outcome nach einem Hirnschlag. Daher ist es wichtig, einen Neglect zu erkennen und frühzeitig zu behandeln.
Diagnose über Augenbewegungen
Im Rahmen eines vom SNF (Schweizerischer Nationalfonds) geförderten Forschungsprojekts konnten wir nachweisen, dass mittels Video-Okulographie die Diagnose eines Neglects besser gelingt als mit herkömmlichen Papier-Bleistift-Verfahren.
Bei dieser Methode betrachten die Patientinnen und Patienten Fotografien, während ihre Augenbewegungen mit einer räumlich und zeitlich hoch auflösenden Infrarotkamera registriert und analysiert werden. Da diese Augenbewegungen spontan stattfinden, bedarf es keiner besonderen Instruktion. Die Analyse kann deshalb auch bei Patienten mit Sprachstörung oder bei Fremdsprachigkeit angewendet werden, bei denen konventionelle Tests nur bedingt durchführbar sind.
Die Untersuchung mittels Video-Okulographie ermöglicht es, den Neglect zeitnah zu erkennen und therapeutische Massnahmen früh zu initiieren. Das erhöht die Chancen für ein besseres Outcome nach der Neurorehabilitation. Zudem kann mit der Methode im Rahmen der ambulanten Nachkontrolle geprüft werden, ob die Person fahrtauglich ist, was bei einem Neglect nicht gegeben ist.
85 Prozent der Neglect-Patienten können mithilfe der Video-Okulographie innert kürzester Zeit korrekt identifiziert werden. Herkömmlich verwendete Papier-Bleistift-Tests sind deutlich weniger sensitiv und erkennen einzeln angewendet nur zwischen 41,7 und 61,7 Prozent. Auch in Kombination verpassen die herkömmlichen neuropsychologischen Verfahren viele Neglect-Patienten und erkennen maximal 68,3 Prozent korrekt.
Dieser Beitrag erschien im Juni 2021 im «luksmagazin» Nr. 20, dem Magazin für Hausärzte und Zuweiserinnen und Zuweiser